27 Mrz Die Quartier-Stadt: analoge Insel im digitalen Meer
Die Zukunft unserer Stadtmitten ist offener denn je. Sie sind seit mehr als 100 Jahren reine Geschäftszentren. Ihre urbane Energie beziehen sie aus dem regenerativen Wechselspiel von Kaufen und Verkaufen, Bummeln und Shoppen, Lauflagen und Frequenzbringern. Ohne den Handel ist Stadtkultur – wie wir sie kennen – substanzlos. Doch im Zeitalter der Digitalisierung verliert die Stadt ihr größtes Gut, das Privileg der Zentralität.
Autor: Prof. Wolfgang Christ | Erschienen in: Immobilien Zeitung 12/2014 am 27.03.2014 Das Internet ist mit Macht dabei, alle wesentlichen Funktionen des Marktplatzes Stadt zu übernehmen: Im Netz ist alles unter dem virtuellen Dach der Globalisierung verfügbar; zentrenrelevante Sortimente sind überall und jederzeit zugänglich; 50 Megabit pro Sekunde ist die Maßeinheit für Angebot und Nachfrage; mit Laptop und Logistik wächst zusammen, was zusammengehört, und der Marktplatz wird mobil. In einer gemischten Offline-Online-Handelswelt sagt die Zentralitätskennziffer immer weniger über die Hierarchie der Umsatzverteilung aus. Sie ist deswegen der Indikator einer untergehenden Epoche.Der Handel ist stets die Avantgarde der Moderne. Früher, schneller und radikaler implantiert er den Fortschritt in den Alltag der Menschen und platziert ihn dort, wo es sie gemeinsam besonders trifft: in der Stadtmitte. So war das Warenhaus in seiner Blütezeit auch Inbegriff vom Angriff auf die City. Das Shoppingcenter war Ikone der Wohlstandsgesellschaft und zugleich Symbol der Stadtflucht.
Jeder Quantensprung der Handelskultur basiert auf neuen Mobilitäts- und Medieninfrastrukturen. Mit sicherem Gespür für die Bedürfnisse und Sehnsüchte in einer Industriegesellschaft gelingt es dem Handel, den technischen Fortschritt in ein Lifestyleprodukt zu verwandeln. So ist das von Emile Zola wunderbar als „Paradies der Damen“ beschriebene Warenhaus „Au Bon Marché“ funktional nicht mehr als ein vielgeschossiges Lagerhaus mitten in der Stadt.
Heute ist die komplementäre Welt zum digitalen Online-Handel das analoge Stadtquartier: Wenn im ständig expandierenden Internet unendlich viele Waren als Daten und Marken als Bilder zirkulieren, dann ist der privilegiert, der das Beste beider Welten integrieren kann. Was Gentrifizierung genannt wird, ist daher die logische Konsequenz einer wachsenden Wertschätzung des Lebens in einem Raum, der überschaubar ist, dessen Grenzen fußläufig erfahrbar sind, der all jene Funktionen mischt, die beim Auszug aus der Stadt separiert wurden, und dessen soziales Netzwerk der öffentliche Raum ist. Die gründerzeitlichen Innenstadtquartiere wie am Prenzlauer Berg (Berlin), Eimsbüttel (Hamburg) oder das Nordend (Frankfurt) sind Musterbeispiele für ein Maximum an analogen Qualitäten.
Das mit allen Sinnen erfahrbare Quartier ist das Inklusionsmedium in der digitalen Moderne. Dessen Netz-Architektur baut auf Eigenschaften, die nicht im virtuellen Raum reproduzierbar sind. Das sind vor allem „Triple A“-Qualitäten: Atmosphäre, Authentizität und die Aura des Einmaligen.
Die Quartier-Stadt ist die analoge Insel im digitalen Meer. Sie ist ein Modell für alle, wenn es gelingt, dieses knappe Gut zu vermehren. Was wir brauchen, sind lebendige, urban codierte, inklusiv verfasste Stadtquartiere dort, wo die Mehrzahl der Menschen heute lebt: in der Zwischenstadt. Für deren Planung brauchen wir als Richtschnur keine Zentralitäts-, sondern eine Urbanitätskennziffer.